Rechtsanwalt Dr. jur. Ingo E. Fromm, Rechtsberater in Koblenz
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Samstag, 13.10.2007

Die Frage der Einführung einer partiellen strafrechtlichen Anweisungskompetenz des Rates der EG zum Schutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Unberührtheitsklausel in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG-Vertrag



von
Dr. jur. Ingo E. Fromm
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Strafrecht
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Der Europäische Gerichtshof hat sich in seinem wegweisenden Urteil vom 13.9.2005 – C-176/03 (Kommission/Rat) – zur so genannten Anordnungs- oder Anweisungskompetenz der EG für strafrechtliche Sanktionen im Bereich des Umweltschutzes geäußert.[i] Unter Anordnungs- oder Anweisungskompetenz wird allgemein die Kompetenz der Organe der EG zur Anweisung der EG-Staaten zur Harmonisierung ihres nationalen Strafrechts per Richtlinie verstanden.

Explizit hat der EuGH in seinem Urteil ausgeführt, dass die Gemeinschaft befugt sei, „Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt“[ii]. Jedenfalls dürften Gemeinschaftsrechtsakte die Strafbarkeit besonders schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt regeln, die den Mitgliedstaaten die Wahl der anwendbaren strafrechtlichen Sanktionen überlassen, wobei diese wirksam, angemessen und abschreckend sein müssten.

I. Einleitung

Die grundsätzliche Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft zur Anweisung der EG-Staaten per Richtlinie zur Harmonisierung ihres nationalen Strafrechts war zumindest vor den klarstellenden Ausführungen des EuGH im Jahre 2005 in der Literatur stark umstritten.[iii]

Teilweise wurde die Europäische Gemeinschaft unter keinen Umständen für befugt angesehen, strafrechtliche Richtlinien zu beschließen. Anderen Auffassungen zufolge wurden Richtlinien der EG zur Angleichung der mitgliedstaatlichen Strafgesetzbücher unter der Bedingung als zulässig erachtet, dass sie den EG-Staaten einen eher weiten Umsetzungsspielraum hinsichtlich der Sanktionsform belassen, also letztere nicht speziell zur Einführung oder Änderung von kriminalstrafrechtlichen Normen verpflichten.[iv] Befürworter von strafrechtlichen Kompetenzen hielten dagegen auch solche Rechtsakte der Gemeinschaft für kompetenzgemäß, die den Mitgliedstaaten keine Wahlmöglichkeiten belassen. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um eine Regelungstechnik zur „Festlegung des nationalen Strafrechts durch die EG“.[v] Der relevante Unterschied besteht aber darin, dass die umgesetzte innerstaatliche Strafnorm im zuletzt genannten Fall nur noch rein formell von den unmittelbar gewählten nationalen Parlamenten demokratisch legitimiert ist.[vi] Im Grunde würden die innerstaatlichen Parlamente aber bei einer Übernahme der durch eine Richtlinie gesetzten Vorgaben ihre Kompetenz zur Setzung von Strafrecht an die Organe der EG abgeben. Die Befugnis zur Setzung von Strafrecht durch die EG wurde jedoch vor allem aufgrund des Demokratiedefizits auf der EG-Ebene nicht für gegeben erachtet.[vii] Teilweise wurde im Rahmen der oben genannten Meinungsstreitigkeit auch danach unterschieden, ob es schon nationale Rechtsvorschriften gibt oder es sich insofern formal um eine „Rechtsschöpfung durch die Gemeinschaft“ handelt. Eine Richtlinienkompetenz wurde hier von den Befürwortern von strafrechtlichen Befugnissen der EG für zulässig erachtet, da es nicht sein könne, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber erst den Erlass einer innerstaatlichen Regelung abwarten müsse.[viii]

Vor der viel beachteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13.9.2005 zur Anweisungskompetenz der Gemeinschaft im Umweltbereich hat es jedenfalls bislang keine Rechtsakte der EG gegeben, in denen die EG-Staaten ausdrücklich zum Erlass kriminalstrafrechtlicher Sanktionen verpflichtet wurden. Bis dato ist die Art der Sanktion, die gegebenenfalls auch über die genannten Vorgaben hinausgehen kann, ihnen überlassen gewesen. In diesen Rechtsakten wurden die EG-Staaten gewöhnlich nur dazu bewegt, „geeignete Sanktionsvorschriften zu erlassen oder ihre Strafvorschriften zu ändern“.[ix] Darüber hinaus verpflichteten verschiedene im Bereich der Fischerei- und der Verkehrspolitik erlassene Richtlinien die EG-Staaten dazu, strafrechtlich gegen Rechtsbrecher vorzugehen oder beschränkten die Arten von Sanktionen, die diese vorsehen könnten. Auch wenn die Bezeichnung „Kriminalstrafrecht“ nicht ausdrücklich verwendet worden ist, so konnten nur strafrechtliche Vorschriften die verlangte Umsetzung erfüllen.[x]

II. Übertragbarkeit der Gerichtsentscheidung vom 13.9.2005 auf die Finanzinteressen der EG?

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist von der Literatur stark kritisiert worden.[xi] So wären die Kritiker von europastrafrechtlichen Vorschriften nicht ausreichend gewürdigt worden. Insbesondere wird vom Schrifttum befürchtet, dass die Entscheidung im Hinblick auf die Kompetenzen der EG im Strafrecht überinterpretiert wird.[xii]

In der Tat hat sich der Europäische Gerichtshof im Rahmen der Erwägungsgründe grundlegend mit der Frage der Existenz einer Strafrechtskompetenz der Organe der EG auseinander gesetzt. Fraglich ist, ob die für Art. 175 EGV anerkannte Anordnungskompetenz auch auf andere vergemeinschaftete Politikbereiche transferiert werden kann und der Weg für eine „Totalharmonisierung des Strafrechts durch den EuGH geebnet“[xiii] ist. Speziell im Bereich der finanziellen Interessen der EG, also dem Schutz des Haushalts der EG, wird die Frage der Befugnis der EG zur Setzung von strafrechtlichen Vorschriften seit jeher rege diskutiert. Der Schutz der Finanzinteressen der EG stellt für das europäische Strafrecht eine „Vorreiterrolle“[xiv] dar. Das besondere Interesse an der Frage der Einführung und Angleichung strafrechtlicher Kompetenzen ist darauf zurückzuführen, dass der Schadensumfang bei mindestens 10-20 % des Gemeinschaftsbudgets liegt.[xv] Von daher besteht ein hohes Bedürfnis der Organe der EG, das eigene Budget effektiver zu schützen. Aus diesem Grunde wird der Ruf nach strafrechtlichen Kompetenzen der EG im Strafrecht vor allem bei den Haushaltsinteressen der EG laut, da bei besonders schweren Subventions- oder Betrugsdelikten eine ausreichende Abschreckungswirkung nur mit kriminalstrafrechtlichen Maßnahmen zu erzielen ist und die Mitgliedstaaten oft nur ein eingeschränktes Interesse an einem lückenlosen Schutz des Haushalts der EG haben.[xvi] Zudem besteht angesichts der enormen Unterschiede im materiellen Straf- und Strafprozessrecht ein akuter Bedarf an der Angleichung der differierenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften.

Die Ausführungen der EuGH zur strafrechtlichen Anweisungskompetenz gehen klar über den Bereich des Umweltschutzes hinaus: So tritt das Gericht zunächst der Auffassung des Rates sowie der beigetretenen Mitgliedstaaten entgegen, die vorgebracht hatten, gegen eine Befugnis der Organe der EG spreche schon, dass eine stillschweigende Kompetenzübertragung über die Materie des Strafrechts auszuschließen sei.[xvii] Für das Strafrecht sei „angesichts der erheblichen Bedeutung des Strafrechts für die Souveränität der Mitgliedstaaten“ eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung notwendig, hatte der Rat argumentiert. Dieser Auslegung der Kritiker des europäischen Strafrechts, die bereits in der Literatur vorzufinden war[xviii], schloss sich der EuGH – allerdings ohne Begründung – nicht an. Dem ist uneingeschränkt zu folgen: Schließlich sind die Ermächtigungsgrundlagen des Gemeinschaftsvertrages rechtsgebietsunabhängig konzipiert, so dass eine ausdrückliche Erwähnung des Strafrechts höchst untypisch für die Systematik des EG-Vertrages wäre. Es erscheint auch nahezu ausgeschlossen, dass man ausnahmsweise für das Gebiet des echten Strafrechts vom systematisch begründeten Schweigen in den Kompetenzgrundlagen des primären Gemeinschaftsrechts abrücken wollte. Insofern wäre grundsätzlich auch eine stillschweigende Abtretung des Rechts zur Aufstellung strafrechtlicher Normen an den europäischen Gesetzgeber denkbar.

Auch die Feststellung des EuGH, dass das Strafrecht grundsätzlich ebenso wie das Strafprozessrecht nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, spricht nicht gegen strafrechtliche Richtlinienkompetenzen der Organe der EG. So führt das Gericht im darauf folgenden Satz des Urteils aus, dass dieser Umstand den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht hindern könne, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der EG-Staaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind. Die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafrecht hatte der EuGH bereits in diversen Entscheidungen klargestellt.[xix] Schon früh waren diese allgemeinen Feststellungen des EuGH von der Literatur fehlinterpretiert und vor allem von den Kritikern des europäischen Strafrechts gegen kriminalstrafrechtliche Kompetenzen der EG vorgebracht worden. Diesen Ausführungen des Gerichts war nämlich damals nur beschränkte Bedeutung für die hier zu klärende eventuelle Einführung einer gemeinschaftlichen Strafsetzungskompetenz zum Schutz der Finanzinteressen der EG beizumessen. Das Gericht stellt(e) mit seinen Ausführungen über die Strafgesetzgebung nur „Grundsätze“ auf, die offen ließen, ob hiervon bereichsspezifische Ausnahmen denkbar sind. Im Übrigen war nicht eindeutig, ob diese Aussagen das Kriminalstrafrecht oder das Strafrecht im weiteren Sinne betrafen.[xx] Ferner würden wohl selbst Vertreter einer extensiven Auslegung eine grundsätzliche originäre Kompetenz der EG für das Strafrecht als abwegig bezeichnen.

Ferner trägt das vom Rat vorgebrachte Argument, strafrechtliche Kompetenzen seien der Europäischen Union (Art. 29, 30, 31e EU) vorbehalten, nicht. Dies ergibt sich aus dem in Art. 29 EU normierten Passus, dass die Ziele des Titels VI „unbeschadet der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft“ verfolgt würden. Diese Formulierung deutet gerade darauf hin, dass weiter gehende Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden sollten.[xxi] Insofern erscheint auch das Bestehen einer Kompetenz über die Materie des Strafrechts innerhalb der gemeinschaftlichen Bestimmungen des Primärrechts nicht von vornherein undenkbar. Die in dieser Unberührtheitsklausel zum Ausdruck kommende strikte Trennung der Rechtsmassen von EU- und EG-Vertrag bliebe schließlich auch gewahrt, wenn man aufgrund des konkurrierenden Zuständigkeitsbereichs für die Finanzinteressen eigene strafrechtliche gemeinschaftliche Rechtsakte für zulässig erachtete.

Beschränken ließe sich eine dahin gehende Befugnis der Europäischen Gemeinschaft jedenfalls weder durch das Unionsrecht insgesamt, noch durch den VI. Titel des EU-Vertrages.[xxii] Berücksichtigt man ergänzend, dass der Sinn und Zweck des Art. 29 EU darin besteht, Versuche des Unionsgesetzgebers zu unterbinden, den EG-Vertrag zu steuern oder zu verändern[xxiii], so kommt der Unbeschadetheitsklausel eher eine kompetenzbegrenzende Wirkung für die „Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ selbst zu. Demnach könnte man höchstens zu dem umgekehrten Schluss gelangen, dass letztendlich sogar das Gemeinschaftsrecht die Kompetenzen im Bereich der „polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“ beschränkt. Die Annahme einer kompetenzbegrenzenden Wirkung der Bestimmungen im Rahmen des VI. Titels des Vertrages über die Europäische Union für die Materie eines gemeinschaftlichen Strafrechts liefe insofern gerade auf eine Verkehrung der eigentlichen Funktion des Art. 29 EU hinaus.

III. Die Unberührtheitsklausel des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG-Vertrag

Vor allem die vom Europäischen Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG-Vertrag spricht entscheidend für eine umfassende Anerkennung einer Anweisungskompetenz der EG, also auch im Bereich der Finanzinteressen der EG. Hier dürfen die Organe der EG Maßnahmen in Bezug auf das Kriminalstrafrecht der Mitgliedstaaten ergreifen.

In Art. 280 Abs. 4 S. 2 des EG-Vertrages heißt es:

„Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt von diesen Maßnahmen unberührt.“

Diese so genannte Unberührtheitsklausel war vor der viel beachteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in weiten Teilen der Literatur als Beleg dafür angesehen worden, dass die Mitgliedstaaten vor einer weiteren Expandierung supranationaler Zuständigkeiten auf das strafrechtliche Gebiet geschützt werden sollten[xxiv] mit der Folge, dass die Anwendung des Strafrechts auch zukünftig eine Prärogative der einzelnen Mitgliedsländer bleibt.[xxv] Durch die Unberührtheitsklausel sei zum Ausdruck gebracht worden, dass die Mitgliedstaaten vor strafrechtlichen Einflüssen der EG zu schützen seien.[xxvi]

Dem ist der EuGH klar entgegen getreten und stellt unmissverständlich klar, dass sich diesem Absatz nicht entnehmen lasse, dass jede strafrechtliche Harmonisierung unzulässig sei, wenn sie zur Sicherstellung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlich sei.[xxvii] Ein Umkehrschluss dahin gehend, dass strafrechtliche Vorschriften nur in der EG-Umweltpolitik kompetenzgemäß seien, nicht dagegen in anderen Bereichen, in denen es Unberührtheitsklauseln gebe, kann hieraus nicht gezogen werden. Hinter den gemeinschaftsrechtlichen Angleichungsrichtlinien im Strafrecht verstecken sich nämlich an die Mitgliedsländer adressierte gesetzgeberische Handlungspflichten zur Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen, die davor noch nicht mit Strafe bedroht waren. Eine derartige Schlussfolgerung hätte nämlich zur Folge, dass die Angleichung des Strafrechts in der Umweltpolitik erlaubt, in anderen Politikbereichen aber verboten wäre. Die Unberührtheitsklauseln beziehen sich aber nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut generell auf die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege. Im Übrigen hätte ein anderweitiges Verständnis zur Konsequenz, dass die Organe der EG zwar im Umweltrecht Strafrechtskompetenzen besäßen, ausgerechnet ihre eigenen Rechtsgüter, wie ihren Haushalt, jedoch nicht effektiv schützen könnten. Etwas zu einfach machte es sich der Generalanwalt Colomer in seinem Schlussvortrag in der Rs. C-176/03 vom 26.05.05 (Rz. 78): Er hatte die Bedeutung der Art. 135 EG und 280 IV 2 EG dahin gehend relativiert als Maßnahmen ohnehin nur die „Anwendung“ des Strafrechts und der Strafrechtspflege unberührt ließen, d.h. nicht die Schaffung der Norm sei betroffen, sondern nur deren Anwendung und jene würde zweifelsfrei den für die Strafrechtspflege zuständigen Richtern zustehen. Hierin erschöpft sich die Unberührtheitsklausel jedoch erkennbar nicht, da sie ansonsten völlig ohne Regelungsinhalt wäre, zumal es noch keinen europäischen Strafrichter gibt.

Diese überraschend eindeutige Auslegung der Klausel in Satz 2 des Art. 280 Abs. 4 EG gibt Anlass, sich mit dem Inhalt der Unberührtheitsklausel näher zu befassen:

Schon auf den ersten Blick ist die Klausel an Undurchsichtigkeit kaum zu überbieten. Dementsprechend hat sie nicht nur in der Literatur große Verwirrung hervorgerufen. Einigkeit besteht zur Zeit nur insofern, als es sich bei Art. 280 Abs. 4 EG um eine schlecht formulierte Norm handelt.[xxviii] Über die wahre Bedeutung der Unberührtheitsklausel herrscht weiterhin Rätselraten. Hier vorab ein Überblick: So wird sie teilweise nur dahin gehend verstanden, dass das nationale Straf- und Strafprozessrecht auch künftig anwendbar, d.h. neben etwaigen supranationalen Maßnahmen in Kraft bleibt.[xxix] Eine so verstandene Auslegung würde die Neuschaffung supranationaler Strafvorschriften künftig erlauben.[xxx] Dem wurde indes entgegen gehalten, die Unberührtheitsklausel enthalte auch eine „negative Aussage“[xxxi]. Sei mit der Formulierung in Art. 280 IV 2 EG das auch künftige Inkraftbleiben der fünfzehn einzelstaatlichen Strafgesetzbücher festgelegt worden, so sei hiermit der Wille verbunden gewesen, alle übrigen Verhaltensweisen der europäischen Marktteilnehmer, die nach den nationalen Strafvorschriften straflos sind, gerade nicht unter Strafe zu stellen.[xxxii] Insofern berühre „jede Inkriminierung seitens der Gemeinschaft, die ein Verhalten erfasst, das nicht bereits die Anwendung des nationalen Strafrechts auf den Plan ruft, ... damit diese negative Funktion nationalen Strafrechts und damit auch dessen (negative) Anwendung“[xxxiii]. Demzufolge enthalte die Unberührtheitsklausel eine Exklusivitätszusicherung hinsichtlich der Materie des Strafrechts und der Strafrechtspflege an die Mitgliedstaaten mit der Konsequenz, dass „erforderliche Maßnahmen“ keine Strafvorschriften beinhalten dürfen.[xxxiv]

Die weitest gehende Ansicht, die sich durch das Urteil des EuGH vom 13.9.2005 erledigt haben dürfte, nahm an, sogar eine Angleichung der innerstaatlichen Kriminalstraftatbestände durch EG-Organe sei durch Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG unmöglich gemacht worden.[xxxv] Diese Interpretation der Unberührtheitsklausel ließ sich durch das Abstellen auf das Verbot der „Berührungen“ von Gemeinschaftsrecht und Strafrecht erzielen. Läge der Sinn und Zweck des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG darin, jegliche Berührung des nationalen Strafrechts durch legislative Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts zu unterbinden, und damit den Bereich des Strafrechts vom Gemeinschaftsrecht strikt zu trennen, so müsste man zu dem Ergebnis gelangen, dass auch eine Einwirkung auf nationales Strafrecht in Form von sekundärrechtlichen Richtlinien künftig verboten sein wird.[xxxvi] Dem Gemeinschaftsgesetzgeber wäre es daher verwehrt, durch gemeinschaftliche Rechtsetzungsakte darauf hinzuwirken, dass die nationalen Gesetzgebungsorgane relevante nationale Strafbestimmungen letztendlich aufheben und/ oder dass sie an anderer Stelle Regelungen in die Strafgesetzbücher einarbeiten.

1. Die wörtliche Auslegung

Legt man jedoch zunächst den (umständlich formulierten) Gesetzestext des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG-Vertrag zugrunde, so verbietet er es dem Gemeinschaftsgesetzgeber zunächst nur, „das Strafrecht der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege anzuwenden“, nimmt also gerade nicht deren Strafrecht insgesamt aus. Anders ausgedrückt dürfen „erforderliche Maßnahmen“ im Rahmen des ersten Satzes nicht die Anwendung innerstaatlicher Strafvorschriften vorschreiben. Dem Gemeinschaftsgesetzgeber ist es also künftig verwehrt, zum strafrechtlichen Schutz der EG-Finanzinteressen Verweisungen in Rechtsakten des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf schon bestehende mitgliedstaatliche Strafvorschriften vorzunehmen. Verordnungen auf der Grundlage von Art. 280 Abs. 4 S. 1 EG dürfen in diesem Bereich insofern keine Regelungen enthalten, die bestimmen, dass der Anwendungsbereich der nationalen Strafvorschriften auf Handlungsweisen zulasten von Rechtsgütern der Europäischen Gemeinschaft, die ohne eine solche sekundärrechtliche Verweisungsnorm vom Schutzbereich der nationalen Strafnorm nicht erfasst wären, ausgedehnt wird.

Eine solche Regelungstechnik zur Gleichstellung des strafrechtlichen Schutzes von europäischen Gemeinschaftsrechtsgütern mit denen der einzelnen Nationalstaaten, die durchaus den Vorteil bietet, hinsichtlich des Gelingens der vollständigen Assimilation supranationaler mit den innerstaatlichen Rechtsgütern nicht zwingend auf die Umsetzung dieser Verpflichtung durch die häufig insoweit desinteressierten einzelnen Nationalstaaten angewiesen zu sein, wurde in der Vergangenheit zunächst in zwei Verordnungen der EWG außerhalb des Bereichs der Finanzinteressen vorgenommen: Zur Sicherstellung des Geheimhaltungsschutzes im Rahmen der Erhebungen über die Löhne[xxxvii] bzw. die Struktur und Verteilung der Löhne in Industrie und Handwerk[xxxviii] erklärten die Verordnungen in deren jeweiligen Art. 5 Abs. 2[xxxix] die Strafvorschriften der Mitgliedsländer, die bisher nur innerstaatliche Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse mit Strafe bedrohten,[xl] für unmittelbar anwendbar.

Ähnliche Verweise auf die innerstaatlichen Strafrechtsordnungen finden sich in Verordnungen, die die Bekämpfung von Betrügereien und Unregelmäßigkeiten bezwecken, so in der „VO 1681/94 der Kommission betreffend Unregelmäßigkeiten und die Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge im Rahmen der Finanzierung der Strukturpolitiken sowie die Einrichtung eines einschlägigen Informationssystems“[xli]. Deren Art. 10 Abs. 4 UA 1[xlii] unterstellt die im Rahmen der Verordnung übermittelten oder erhaltenen Angaben den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutze der Berufsgeheimnisse. Auf die mitgliedstaatlichen Strafvorschriften, die das Berufsgeheimnis schützen, nimmt ebenfalls Art. 45 Abs. 1 UA 1 S. 2[xliii] der VO 515/97[xliv] Bezug, um die Vertraulichkeit der Auskünfte, die zur Durchführung der gegenseitigen Amtshilfe zwischen Verwaltungsbehörden der EG-Staaten und die Zusammenarbeit dieser Behörden mit der Kommission im Hinblick auf die ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- und der Agrarregelung übermittelt werden, zu gewährleisten. Da die zuletzt genannten Verordnungen den strafrechtlichen Schutz der EG-Finanzinteressen bezwecken, und damit nunmehr dem Anwendungsbereich des Art. 280 Abs. 4 EG unterliegen, dürften sie infolge des Verbots der Verweisungstechnik unwirksam geworden sein, es sei denn, man lässt das Verbot in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG nur für künftige Rechtsakte gelten.

Schon lange bevor es die Unberührtheitsklausel in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG gab, war die Kompetenz der EG-Organe zur Verweisung auf bereits bestehendes nationales Kriminalstrafrecht stark umstritten. Dies fand seinen Ausdruck darin, dass in das Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke[xlv], auf das in den ersten beiden Verordnungen Bezug genommen wurde, durch § 8 des „Gesetzes zur Durchführung der VO 70/66 (EWG)“ „Besondere Bestimmungen für Statistiken der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft“[xlvi] eingefügt wurden. Diese Änderungen im StatGes waren erforderlich geworden, nachdem zwischen dem deutschen Bundesrat[xlvii] und der Regierung ein Streit um die Wirksamkeit derartiger Verweisungen entbrannt war. Jedenfalls nach Einfügung der zuletzt genannten Bestimmungen stand zwischenzeitlich fest, dass die Statistiken der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft den innerstaatlichen Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen strafrechtlich gleichgestellt sind. Auf die Entscheidung des Streites über die Befugnis der Gemeinschaftsorgane zur Verweisung auf einzelstaatliche kriminalstrafrechtliche Normen kam es derzeit in diesem Bereich nicht mehr an, zumal die Verordnungen nach Durchführung der Erhebungen zwischenzeitlich gegenstandslos geworden sind.[xlviii]

In der Literatur war man sich lange uneinig über die Zulässigkeit von Verweisungen auf innerstaatliches Strafrecht. Einerseits hielt man Sanktionsregelungen in Form von Verweisungen dann für möglich, wenn sie im Rahmen „vergleichbarer Tatbestände geschehen“[xlix]. Wenn der Ministerrat bestimme, dass die innerstaatlichen Strafbestimmungen auch auf EG-Ebene gelten, so würde er die gesetzgeberische Entscheidung der innerstaatlichen Rechtsetzungsorgane gerade respektieren.[l] Andererseits wurden massive Bedenken gegen die sog. „Verweisungskompetenz“ geltend gemacht.[li] Diese resultierten v.a. aus der Tatsache, dass auf diese Weise unmittelbare strafrechtliche Normen des Gemeinschaftsgesetzgebers und damit supranationales Strafrecht geschaffen würde.

2. Die systematische Auslegung

Bei der systematischen Auslegung der Unberührtheitsklausel wird teilweise[lii] ein Umkehrschluss gezogen, dessen Richtigkeit es zu untersuchen gilt: Nach Tiedemann[liii] deuten die von zahlreichen Verordnungen her bekannten Formeln, dass „die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafrecht oder die Strafrechtspflege unberührt bleiben solle“[liv] oder dass die im jeweiligen Rechtsakt vorgesehenen Maßnahmen „nicht strafrechtlicher Art“[lv] seien, darauf hin, dass es wegen der anderweitigen Formulierung der Unberührtheitsklausel des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG dem Gemeinschaftsgesetzgeber gerade nicht verboten sei, eigene kriminalstrafrechtliche Sanktionen festzulegen. Da man die bereits bekannten und gängigen Formulierungen des Sekundärrechts, die eindeutig klarstell-(t)en, dass eine EG-Strafrechtskompetenz nicht geschaffen wird bzw. wurde, in das Primärrecht nicht übernommen habe, käme durch die Klausel des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG („Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt von diesen Maßnahmen unberührt“) zum Ausdruck, dass dieser Regelung eine andere Bedeutung zukomme als den Unberührtheitsklauseln des Art. 19, VO Nr. 11[lvi], Art. 15 Abs. 4, VO Nr. 17[lvii], Art. 22 Abs. 4, VO Nr. 1017/68[lviii] und Art. 14 Abs. 4, VO 4064/89[lix]. In der Sache betreibt Tiedemann damit eine sekundärrechtskonforme Auslegung von primärrechtlichen EG-Vertragsnormen. Die Richtigkeit dieser Vorgehensweise muss jedoch in Zweifel gezogen werden.

Für die Ansicht kann zunächst nicht die von der ständigen Rechtsprechung des EuGH vorgenommene Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts mit Hilfe primärer vertraglicher Bestimmungen angeführt werden. Der Gerichtshof überprüft die Auslegung sekundärer Rechtsakte seit jeher an den Bestimmungen des EG-Vertrages, um die einheitliche Auslegung mit dem Primärrecht zu gewährleisten.[lx] Im Zweifel zieht der Europäische Gerichtshof bei der Auslegung des rangniedrigeren Rechts die Auslegungsvariante vor, die eine Einstufung als unvereinbar mit dem Primärrecht verhindert.[lxi] Zwar kann der Ausdruck dieser Judikatur darin bestehen, dass zur Sicherstellung der Vereinbarkeit von Sekundär- und Primärrecht eine gewisse Vermutung dafür spricht, denselben Formulierungen des abgeleiteten Rechts und vertraglichen Normen einen einheitlichen Sinn zugrunde zu legen. Die Prämisse dieser Auslegungsform liegt jedoch in der zeitlich vorangegangenen Existenz primärrechtlicher Vertragsartikel, mit deren Hilfe anschließend sekundärrechtliche Klauseln interpretiert werden. Da jedoch die gängigen Formulierungen im sekundären Gemeinschaftsrecht als Argument für die Annahme einer Strafrechtskompetenz der EG in Art. 280 Abs. 4 EG angeführt werden, wird in diesem Falle nicht das abgeleitete Recht durch den EG-Vertrag, sondern es werden umgekehrt Normen des primären Rechts durch bereits seit langem vorhandene Formeln in sekundären Rechtsakten ausgelegt. Als Prüfungsmaßstab dient in diesem Falle also nicht die Norm des Primärrechts, sondern allein das nachrangige sekundäre Gemeinschaftsrecht. Für eine dahin gehende Auslegungspraxis fehlt es jedoch an einschlägiger Judikatur. In einigen Urteilen hat der Gerichtshof zwar unbestimmte Begriffe des EG-Vertrages unter Heranziehung sekundärrechtlicher Vorschriften konkretisiert.[lxii] Anhaltspunkte für ein Verständnis einer primärrechtlichen Norm wurden der nachfolgenden Praxis der Gemeinschaftsorgane entnommen, wenn Bestimmungen des Sekundärrechts diese Vorschrift konkretisierten. Aus der Möglichkeit des Bestehens bestimmter Wechselwirkungen zwischen dem Gemeinschaftsrecht unterschiedlichen Ranges kann jedoch keineswegs die grundsätzliche Anerkennung einer „sekundärrechtskonformen Auslegung des Vertragsrechts“[lxiii] durch den Gerichtshof gefolgert werden. Die Interpretation von Begriffen des primären Gemeinschaftsrechts durch Formulierungen im Sekundärrecht hat der EuGH bisher nur im Verhältnis des abgeleiteten Rechts zu den entsprechenden Ermächtigungsvorschriften des Vertrages, auf deren Grundlage es erging, vorgenommen.[lxiv] Über diese Konstellationen hinaus verböte sich eine sekundärrechtskonforme Auslegung des Vertragsrechts. Gegen die grundsätzliche Anerkennung einer solchen Interpretationsmethode sprächen vor allem normenhierarchische Gesichtspunkte.[lxv] Genauso wenig wie auf nationales Recht unmittelbar bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zurückgegriffen werden kann, dürfen gemeinschaftliche Rechtsakte Bestimmungen auslegen, die im Verhältnis zu ihnen höherrangig sind. Andernfalls würde in der Tat der Grundsatz der Niederrangigkeit des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Vertragsrecht verkannt.[lxvi] Richtete man das Verständnis einer primärrechtlichen Norm stets an verwandten Bestimmungen des abgeleiteten Rechts aus, so bestünde die nicht unerhebliche Gefahr, nachrangige Normen nicht für ungültig im Falle ihrer Vertragswidrigkeit zu erklären, sondern ihren Sinngehalt sogar als maßgeblich für die primärrechtliche Norm anzusehen. Da die Verordnungen Nr. 11[lxvii], Nr. 17[lxviii], Nr. 1017/68[lxix] und Nr. 4064/89[lxx], die in Art. 19, Art. 15 Abs. 4, Art. 22 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 4 die bekannten Klauseln enthalten, auf die sich Tiedemann[lxxi] beruft, jedenfalls nicht auf die Grundlage der hier auszulegenden Vertragsbestimmung des Art. 280 Abs. 4 EG gestützt wurden, scheidet jedenfalls eine Ausrichtung des ranghöheren am ergangenen niederrangigen Gemeinschaftsrecht bei der Deutung der Vorschrift aus.

Wenn Tiedemann[lxxii] behauptet, gerade aufgrund der Nicht-übernahme der besonderen Terminologie des Sekundärrechts müsse im Umkehrschluss von einem Verständnis der Unberührtheitsklausel dahin gehend ausgegangen werden, dass die Norm des Art. 280 Abs. 4 EG strafrechtliche Rechtsakte einschließen müsse, so verkennt er diese Gesichtspunkte. Die Argumentation übersieht darüber hinaus, dass das Sekundärrecht und primärrechtliche Normen die Gemeinsamkeit besitzen, Gemeinschaftsrecht darzustellen, darüber hinaus jedoch oft keine weiter gehenden Überschneidungen bestehen. Der wesentliche Unterschied besteht schon in den abweichenden zuständigen Schöpfern der Regelungsbereiche. Während sekundärrechtliche Vorschriften von den Organen der EG normiert werden, werden die Artikel des EG-Vertrages von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten bei den Regierungskonferenzen entworfen. Es muss bezweifelt werden, ob den Autoren des Amsterdamer Vertrages bei ihren Verhandlungen überhaupt die entsprechenden sekundärrechtlichen Rechtsakte mit ihren typischen detaillierten Formulierungen vorlagen, geschweige denn überhaupt bekannt waren. Abweichende Formulierungen in sekundärrechtlichen Rechtsakten und im primären Gemeinschaftsrecht, die wohlgemerkt nicht völlig deckungsgleiche Sachbereiche regeln, müssen vor diesem Hintergrund nicht unbedingt zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.[lxxiii]

3. Die teleologische Ausdeutung

Im Rahmen der teleologischen Deutung der Unberührtheitsklausel hat sich zum einen ein restriktives Verständnis des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG herauskristallisiert. Diesen Deutungen nach hat der Vertrag von Amsterdam eine partielle Strafrechtskompetenz der EG zum Schutz ihrer finanziellen Interessen mit sich gebracht, da der Unberührtheitsklausel nur die Bedeutung der Anordnung des Ausschlusses einer für das Gemeinschaftsrecht typischen Vorrangwirkung für den Bereich des Strafrechts zukomme. Dies hätte zur Folge, dass ein ergänzendes Eingreifen des Gemeinschaftsgesetzgebers für diesen Bereich zulässig wäre.[lxxiv] Der Gesetzgeber der EG könnte dieser Meinung zufolge nachrangig tätig werden in Fällen, in denen die Vorschriften der EG-Staaten keinen oder einen nicht ausreichenden strafrechtlichen Schutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaft bereitstellen. Die Gemeinschaft hätte dann die Befugnis, diese Lücken in den nationalen Strafrechtssystemen subsidiär zu schließen.[lxxv] Finde der Gesetzgeber der EG Diskrepanzen in den nationalen Rechtsordnungen vor, so müsse ihm demzufolge die Möglichkeit offen stehen, diese durch eigenes, komplementäres Strafrecht zu korrigieren.[lxxvi] So sei die Kreierung einer EG-Strafnorm, die die leichtfertige Subventionserschleichung pönalisiert, kompetenzrechtlich zulässig, allerdings mit der Maßgabe, dass die Vorschrift nur in den mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen anwendbar sei, die einen strafrechtlichen Schutz gegen leichtfertige Subventionserschleichung nicht kennen.[lxxvii] Dagegen sei die Regelung in den EG-Ländern nicht anwendbar, die bereits die leichtfertige Erschleichung von Subventionen der Europäischen Gemeinschaft mit Strafe bedrohen.[lxxviii]

Selbst wenn man in der Unberührtheitsklausel die Trennung der Rechtsmassen des Gemeinschaftsrechts vom nationalen Strafrecht dokumentiert sieht, spräche dies nicht zwingend gegen gemeinschaftliche Sanktionen strafrechtlicher Natur, da bei isoliertem Nebeneinanderstehen der einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Kriminalstraftatbestände die angeordnete Scheidung gewahrt bliebe.[lxxix] Zur Bekräftigung dieser Ansicht wird angeführt, dass die finanziellen Interessen der EG ein so wichtiges Rechtsgut seien, dass hier die Hemmungen gegenüber der Vergemeinschaftung des Strafrechts nicht gelten,[lxxx] so dass diese Auslegungsweise der Entwicklung der letzten Jahre entspreche, in denen der Schutz der Finanzinteressen der EG stets Motor der Entwicklung eines europäischen Strafrechts war.

Problematisch an dieser Deutung der Unberührtheitsklausel erscheint zunächst, dass unklar ist, wann überhaupt von einer Strafbarkeitslücke in den nationalen Strafrechtssystemen auszugehen ist.[lxxxi] Bedeutet das Vorliegen einer Lücke das Fehlen der Strafbarkeit nach der grammatikalischen Wortlautanalyse oder liegt selbige bereits vor, wenn zwar eine ausdrückliche Strafbestimmung besteht, die Rechtspraxis die Norm jedoch nur einschränkend auslegt?

Im Übrigen leuchten auch die Ergebnisse dieser Interpretationsvariante nicht recht ein. So erscheint es unbillig, das Bedürfnis nach einem Eingreifen des Gemeinschaftsgesetzgebers entfallen zu lassen, wenn alle Mitgliedstaaten zwar einen vorsätzlichen Subventionsbetrug kennen würden, aber die Schuldsprüche von moderaten Geldstrafen bis zu zweistelligen Freiheitsstrafen variierten, genauso wie ein Tätigwerden der Organe der EG nicht unbedingt notwendig erscheint, wenn das entsprechende EG-Land eine Strafbarkeit wegen Subventionsbetrugs zwar nicht kennt, das Verhalten jedoch durch andere Tatbestände abgedeckt wird.

Hingewiesen werden muss auch auf das enorme Konfliktpotential, welches im Falle der subsidiären Anwendung von mitgliedstaatlichem und innerstaatlichem Strafrecht bestünde. Schröder[lxxxii] weist zum einen auf das Unterlaufen des innerstaatlichen Entscheidungsprozesses hin, wobei angemerkt sei, dass die staatlichen Parlamente bereits zu Maastrichter Zeiten im Bereich des Strafrechts unter diesem Machtverlust zu leiden hatten. Tragischer wären die Glaubwürdigkeitsverluste, die im Falle der Verurteilung von Tätern auf Grundlage von europäischen Strafnormen entstünden. Viele Bürger würden sich fragen, welchen Sinn das innerstaatliche StGB überhaupt noch hat, wenn es nicht vollständig wäre, und wären verunsichert, welche Rechtslage nun gilt. Es würde sich schnell die Erkenntnis durchsetzen, dass ein europaeinheitliches StGB die bessere Lösung wäre, da hier alle zu pönalisierenden Handlungen und Unterlassungen – übersichtlich zusammengestellt – aufgenommen werden könnten.

Zu demselben Ergebnis gelangte man, wenn man der Unberührtheitsklausel ebenfalls unter restriktiver Auslegung nur die Bedeutung beimisst, dass durch sie eine abschließende Wirkung gemeinschaftlicher Sanktionen auf dem Gebiet des Strafrechts verhindert werden sollte. Derartige Überlegungen könnte man vor dem Hintergrund anstellen, dass nach den allgemeinen Regeln über die Zuständigkeitsverteilung zwischen Gemeinschaft und den einzelnen Mitgliedsländern im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit die nachgeordnete Rechtsordnung (der Mitgliedsländer) ihre Normsetzungsbefugnis verliert, wenn die übergeordnete ihre Zuständigkeit über ein Sachgebiet in abschließender und erschöpfender Weise ausgeübt hat.[lxxxiii] Die Mitgliedstaaten können hier grundsätzlich keine Normen mehr erlassen.

Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung, für die spätestens seit dem Amsterdamer Vertrag sowohl die EG-Staaten als auch die Organe der EG selbst zuständig sind[lxxxiv], und die somit der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit unterfallen, entfalten insofern grundsätzlich abschließende Wirkung im Falle einer Regelung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber. Letztlich können die Vertragsautoren zum EG-Vertrag und der Gemeinschaftsgesetzgeber aber selbst bestimmen, welche Konsequenzen sich für das innerstaatliche Recht bei einer Regelung durch die Gemeinschaft ergeben. Ausnahmen vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts sind bereits im Primärrecht für den Bereich der Umweltpolitik in Art. 130 t EGV[lxxxv], für den Arbeitsschutz in Art. 118a Abs. 3 EGV[lxxxvi] sowie die binnenmarktbezogene Rechtsangleichung in Art. 100a V EGV[lxxxvii] vorgesehen gewesen.

Eine abschließende Wirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts und damit ein Verlust der Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten kann also verhindert werden, wenn die Vertragsautoren eine ergänzende Normsetzung durch die EG-Staaten im Primärrecht durch derartige sog. „Schutz- oder Notstandsklauseln“ ausdrücklich zugelassen haben.[lxxxviii] In diesem Bereich können die Mitgliedsländer weiter ihr nationales Recht anwenden und neue Rechtsvorschriften erlassen.[lxxxix] Betrachtete man nun die Unberührtheitsklausel als eine solche „Gestattung“, so entwickelten Maßnahmen der Gemeinschaft für das Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts keine Präklusionswirkung für ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten.

Diese Auslegung vertrüge sich v.a. mit der Vorstellung, dass die auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Sanktionsvorschriften nicht abschließend gemeint sind und sich nur als ein Sanktionsminimum verstehen,[xc] die eine schärfere Ahndung durch die nationalen Bestimmungen ermöglichen.[xci] Wenn das Primärrecht damit bestimmen würde, dass das Strafrecht ausnahmsweise von der Vorrangwirkung ausgenommen ist,[xcii] so ließe sich darin zugleich ablesen, dass „erforderliche Maßnahmen“ auch strafrechtliche, gemeinschaftliche Regelungen mit sich bringen können, die möglicherweise den Schutz der EG-Finanzinteressen sogar erschöpfend regeln, sonst wäre eine ausdrückliche Bestimmung, die die verdrängende Wirkung gemeinschaftlichen Rechts ausschließt, überflüssig. Anders ausgedrückt käme man bei dieser Interpretationsmethode zu folgendem Schluss: Wären supranationale, die Betrugsbekämpfung zum Nachteil der Gemeinschaftsmittel in erschöpfender und umfassender Weise regelnde Strafvorschriften von Maßnahmen i.S. von Abs. 4 S. 1 ausgenommen, so hätte sich die künftige Anwendung nationalen Strafrechts auch ohne eine Erwähnung in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG daraus ergeben, dass eine verdrängende Wirkung von vornherein nicht hätte stattfinden können.

Zwar bestünde bei Annahme einer parallelen Verteilung der Kompetenzen, bei der neben gemeinschaftlichem Strafrecht auch innerstaatliche strafrechtliche Sanktionen Anwendung fänden, die Gefahr von nicht unerheblichen Belastungen des Betroffenen durch eine mögliche „Doppelbestrafung“.[xciii] Es wird vorgeschlagen, dass dieser mit einer Anrechnung der Strafen oder mit Aussetzungen eines der Verfahren zu begegnen sein könnte.[xciv]

Vor der Verkündung des besprochenen Urteils des EuGH vom 13.9.2005 wurde dem entgegen gehalten, der Sinn und Zweck der Unberührtheitsklausel bestehe darin, den Mitgliedstaaten eine gewisse Monopolstellung für die Entscheidung über die Tatbestandsmerkmale und den Geltungsbereich aller Strafvorschriften zu belassen.

Es wäre jedoch fehlerhaft, der Unberührtheitsklausel zu entnehmen, sie ordne das Verbot des Gemeinschaftsgesetzgebers an, durch jegliche legislative Maßnahmen auf innerstaatliches Strafrecht Einfluss zu nehmen, wie dies Satzger[xcv] tut. Dies liefe auf eine Überinterpretation der Klausel hinaus. Satzger zufolge enthält die Unberührtheitsklausel gar folgende „negative Aussage“[xcvi]: Sei mit der Formulierung in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG das auch künftige Inkraftbleiben der fünfzehn einzelstaatlichen Strafgesetzbücher festgelegt worden, so sei hiermit der Wille verbunden gewesen, alle übrigen Verhaltensweisen der europäischen Marktteilnehmer, die nach den nationalen Strafvorschriften straflos sind, gerade nicht unter Strafe zu stellen.[xcvii] Dies entnimmt er von Liszts[xcviii] „Magna Charta des Verbrechens“. Durch die Fixierung von Straftatbeständen hätten die Nationalstaaten gleichzeitig einen strafrechtlichen Freiraum geschaffen. Insofern berühre „jede Inkriminierung seitens der Gemeinschaft, die ein Verhalten erfasst, das nicht bereits die Anwendung des nationalen Strafrechts auf den Plan ruft, ... damit diese negative Funktion nationalen Strafrechts und damit auch dessen (negative) Anwendung“[xcix]. Demzufolge drückt die Unberührtheitsklausel eine Exklusivitätszusicherung hinsichtlich der Materie des Strafrechts und der Strafrechtspflege an die Mitgliedstaaten aus mit der ersten Konsequenz, dass „erforderliche Maßnahmen“ keine Strafvorschriften beinhalten dürfen,[c] und der weiteren Folge, dass auch Harmonisierungsbestrebungen in Form von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien den EG-Organen künftig verboten sein werden. Würde man die Unberührtheitsklausel tatsächlich dahin gehend deuten, dass nach der Amsterdamer Version jegliche Berührungen nationalen Strafrechts durch legislative Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen sein sollen, so wäre es dem Gemeinschaftsgesetzgeber nun gar verwehrt, die Mitgliedsländer zu verpflichten, Maßnahmen zur Sicherstellung der angemessenen Sanktionierung oder zur Angleichung des Strafrechtsschutzes europäischer Schutzgüter zu treffen. Die Organe der EG dürften also künftig durch gemeinschaftliche Rechtsetzungsakte nicht darauf hinwirken, relevante nationale Strafbestimmungen letztendlich aufzuheben oder an anderer Stelle Regelungen in die Strafgesetzbücher einzuarbeiten, falls dies für eine weiter gehende Kohärenz für notwendig gehalten würde und der Gemeinschaftsgesetzgeber Strafbarkeitslücken befürchtete.

So weit geht die Selbstständigkeit des Strafrechts gegenüber dem europäischen Gemeinschaftsrecht aber nicht. Nähme man dem Gemeinschaftsgesetzgeber das bereits in der Vergangenheit vielfach ausgeübte Recht,[ci] die Mitgliedstaaten auf diesem Wege zur Harmonisierung ihrer Sanktions- und Strafbestimmungen zu zwingen, so ginge dies zweifels-ohne auf Kosten der Einheitlichkeit des strafrechtlichen Schutzes, welches in Art. 280 Abs. 4 S. 1 EG zu einem der hervorragenden Ziele der EG-Betrugsbekämpfung erklärt wurde. Im Übrigen veranschaulicht dieses Beispiel, dass der Vertrag von Amsterdam zu einem deutlichen Integrationsrückschritt geführt hätte, wenn es künftig ausgeschlossen wäre, durch Maßnahmen nach Abs. 4 S. 1 der Vorschrift darauf abzuzielen, einzelne Bestimmungen der Strafgesetzbücher der Mitgliedstaaten mittels sekundärrechtlicher Richtlinien zu vereinheitlichen.

Eine solche Sichtweise bedeutete sogar das vorläufige Ende aller Initiativen der Gemeinschaft, Wettbewerbsverfälschungen durch Harmonisierung nationaler Strafvorschriften einzudämmen. Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG blockierte dann das Bestreben der Gemeinschaft, der Rechtszersplitterung nur durch souveränitätsschonende Maßnahmen im Bereich des nationalen Strafrechts ein Ende zu setzen.

Misst man der Unberührtheitsklausel die Bedeutung bei, dass sie den Sinn verfolgt, jegliche „Berührungen“ von Europarecht und Strafrecht zu unterbinden, so müsste man zu dem Ergebnis gelangen, dass diese Form der Einwirkung auf nationales Strafrecht künftig verboten sein wird. Die Unrichtigkeit dieser Auslegung ist jedoch daran erkennbar, dass nach dieser Argumentationslinie auch die Verpflichtung der EG-Staaten zur Assimilierung der Straftatbestände, die als mildeste Form der Einwirkung bekannt ist, nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, da auch hierdurch innerstaatliches Strafrecht nicht minder durch supranationales Recht beeinflusst wird. Dies widerspräche schon der ausdrücklichen primärrechtlichen Bestimmung des Art. 280 Abs. 2 EG, die die Verpflichtung an die Mitglied­staaten zur Gleichstellung ihrer Straftatbestände weiterhin beibehält.

4. Zwischenergebnis

Die Tatsache, dass Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG weder im Gesetzestext der deutschen Fassung noch der übrigen Amtssprachen[cii] ausdrücklich eine Regelung zur Lösung der Frage einer bereichsspezifischen Übertragung der Zuständigkeit über das Strafrecht an die Europäische Gemeinschaft enthält, legt offen, dass bei der Formulierung der Unberührtheitsklausel von einem Redaktionsversehen der Vertragsautoren des Vertrages von Amsterdam auszugehen ist. Unklare oder gar fehlerhafte Formulierungen im EG-Vertrag stellen mittlerweile keine Seltenheit mehr dar und sind in der Vergangenheit auch in anderen Politikbereichen vorgekommen.[ciii] Der missratene Wortlaut des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG ist sogar im Europäischen Parlament offen ausgesprochen und bedauert worden.[civ]

Um zu verdeutlichen, dass das Strafrecht auch künftig eine „domaine révervé“ der Mitgliedsländer bleibt, hätte es aber – wie z.B. in den diversen Unberührtheitsklauseln der VO (EG) 1073/1999 geschehen – einer klareren Artikulierung dahin gehend bedurft, dass nicht nur „die Anwendung des nationalen Strafrechts sowie ihrer Strafrechtspflege“ von erforderlichen Maßnahmen des S. 1 desselben Absatzes ausgenommen ist, sondern auch insgesamt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafrecht oder die Strafrechtspflege unberührt bleiben soll.

Vor diesem Hintergrund bietet sich bei einer der nächsten Vertragsrevisionen eine Berichtigung des missglückten Ausdrucks in Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG an. Die Unberührtheitsklausel sollte dann von den Mitgliedstaaten dahin gehend korrigiert werden, dass durch Maßnahmen im Sinne des Satzes 1 nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafrecht oder ihrer Strafrechtspflege berührt werden darf. Eine Klarstellung würde ferner die sich bereits in zahlreichen sekundärrechtlichen Verordnungen befindliche[cv] und seit jeher gängige Formulierung bringen, dass die zu beschließenden Maßnahmen des ersten Satzes „nicht strafrechtlicher Natur“ sind. Ansonsten könnte sich die von Hefendehl[cvi] geäußerte Befürchtung, dass sich die Brüsseler Krake nunmehr das Strafrecht einverleiben könnte, bewahrheiten. Diese Gefahr muss jedenfalls für den Schutz der finanziellen Interessen der EG gelten, da vor dem Hintergrund des enormen Missbrauchsausmaßes und der stark differierenden Strafvorschriften ein hohes Bedürfnis an einheitlichen strafrechtlichen Normen besteht.

IV. Fazit

Der Europäische Gerichtshof hat sich in seiner Entscheidung vom 13.9.2005 erstmals eindeutig für eine umfassende Kompetenz der Organe der EG zur Harmonisierung des Strafrechts der Mitgliedstaaten ausgesprochen. Zwar ist damit der Weg für eine „Totalharmonisierung“ der innerstaatlichen Strafgesetzbücher noch nicht geebnet, da diese Strafrechts-kompetenz der EG dem EuGH zufolge unter dem Vorbehalt der Notwendigkeit steht. Den Auffassungen, dass vor allem die Unberührtheitsklausel des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG eher gegen strafrechtliche Kompetenzen der EG zur effektiven Gewährleistung des Schutzes der Finanzinteressen der EG spreche, ist der EuGH damit nicht gefolgt. Auch mit der historischen Auslegungsmethode, aus der sich ergeben hätte, dass die Unberührtheitsklausel sehr wohl eine Konsequenz der Abneigung der Mitgliedstaaten gegen europäisches Strafrecht war,[cvii] befasste sich der EuGH nicht. Im Gegenteil argumentiert der Europäische Gerichtshof sogar mit der Unberührtheitsklausel des Art. 280 Abs. 4 S. 2 EG-Vertrag, um letztlich strafrechtliche Harmonisierungsbestrebungen der EG abzuleiten.

Bedauerlicherweise hat sich der EuGH in seiner grundlegenden Entscheidung ebenfalls nicht mit dem gewichtigsten, gegen eine Strafrechtskompetenz vorgebrachten Argument befasst, Strafrechtsbestimmungen könnten aufgrund des Demokratiedefizits innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht ausreichend demokratisch legitimiert werden.[cviii] Da der Europäische Gerichtshof in anderen Verfahren bereits ausdrücklich entschieden hat, dass für bestimmte Politikbereiche und Gesetzesvorhaben die hinreichende Mitwirkung eines speziellen EG-Organs notwendig ist, um der Norm die erforderliche demokratische Legitimität zu verleihen,[cix] kann man dem im Umkehrschluss entnehmen, dass der Gerichtshof strafrechtliche Richtlinien der EG zur Gewährleistung einer einheitlichen Bestrafung offenbar für ausreichend demokratisch legitimiert hält.

Im Bereich des strafrechtlichen Schutzes der Finanzinteressen der EG wird daher zukünftig noch reger die Frage diskutiert werden (müssen), ob nunmehr sogar originäre strafrechtliche Vorschriften der EG-Organe im Verordnungswege kompetenzgemäß sind.[cx] Das Urteil des EuGH vom 13.9. 2005 erweckt den Eindruck, als ob sogar die Einführung strafrechtlicher Verordnungen der EG zum Schutz ihrer finanziellen Interessen nur noch unter der Bedingung der „Erforderlichkeit“ steht.

Endnoten:

[i] EuGH, Urt. v. 13.9.2005 – C-176/03 (Kommission/Rat) = ZIS 2006, 179. [ii] EuGH ZIS 2006, 184 Rn. 48. [iii] Zum einstigen Meinungsstand mit weiteren Nachweisen: Hecker, Europäisches Strafrecht, 2005, S. 154 f.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 393 ff.; Dannecker, Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, in Eser, Albin/ Huber, Barbara (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa 4, Teil 3, Freiburg im Breisgau, 1993, S. 59; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts im weiteren Sinne, 1995, S. 32. [iv] Gröblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 135 f.; Johannes, EuR 1968, 63 (108); Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung?, 1998, S. 258; Oehler, Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, in Vogler, Theo/ Herrmann, Joachim (Hrsg.), Festschrift für Jescheck, Hans Heinrich, 2. Halbband, Ber­lin 1985, S. 1399 (1408); ders., Der Europäische Binnenmarkt und sein wirtschaftsstrafrechtlicher Schutz, in Arzt, Gunther u.a. (Hrsg.), Festschrift für Baumann, Jürgen, Bielefeld 1992, S. 561 (566); Perron, in: Dörr/Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, 1997, S. 135 (152); Sieber, ZStW Band 103 (1991), 957 (965, 972); Tiedemann, NJW 1993, 23 (26). [v] Sieber, ZStW Band 103 (1991), 957 (965). [vi] van Kalmthout/van der Landen, NK 1991, 15 (16). Die Frage des Demokratiedefizits auf Gemeinschaftsebene stellt sich hier wohl nicht. Magiera, in: Randelzhofer u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 409 (429); Weigend, ZStW Band 105 (1993), 774 (799). [vii] Dazu Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG, 2004, S. 227 ff. [viii] Heitzer, Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 150. [ix] „4. Richtlinie des Rates vom 25.7.1978 über den Jahres-abschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen“ (ABl. 1978, L 222, S. 11 ff.), der „Richtlinie über die Koordinierung der Reglementierungen über Insidergeschäfte vom 13.11.1989“ (ABl. 1989, L 334, S. 30), sowie der „Richtlinie des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche vom 10.6.1991“ (ABl. 1991, L 166, S. 77). [x] Vgl. Art. 14 der Richtlinie 91/308/EWG des Rates vom 10.6.1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (ABl.EG Nr. L 166, S. 77) und Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28.11. 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl.EG Nr. L 328, S. 17). [xi] Hefendehl, ZIS 2006, 161 (164). [xii] H. Satzger, The Future of European Criminal Law Between Harmonization, Mutual Recognition and Alternative Solutions, Journal for European Criminal Law, Heft 1, 2006, S. 27 ff. [xiii] Hefendehl, ZIS 2006, 161 (166). [xiv] Dannecker, in Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2000, Kap. 8 Rn. 106. [xv] Bruns, Der strafrechtliche Schutz der europäischen Marktordnungen für die Landwirtschaft, 1980, S. 23; Dannecker, JZ 1996, 869 (875); ders. (Fn. 14), Kap. 8 Rn. 110; ders., in Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht: Schutz der Finanzinteressen der EU im allgemeinen Strafrecht und im Finanzstrafrecht, 1999, S. 9 (17); Delmas-Marty, ELR 1998, 87 (88); dies., Union Européenne et Droit Pénal, 1997, S. 607; Fischler, ÖJZ 1997, 521; Johannes, Neue Tendenzen im Strafrecht der Europäischen Gemeinschaften, RIDP 1971, 82 (83); Lenaerts, EuR 1997, 17 (20, Fn. 14); Lührs, wistra 1999, 89 (90); Magiera, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2000, 14. Ergänzungslieferung, Stand: Oktober 1999, Art. 209a Rn. 5, ders., in Wendt (Hrsg.); Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, Festschrift für Friauf, Karl Heinrich; Staat, Wirtschaft, Steuern; 1996, S. 13 (19); Nuutila, in: Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines europäischen Strafrechts. Internationales Kolloquium in Trier 1999, 2000, S. 177; Otto, Jura 2000, 98 (100); ders., in: Huber (Fn. 15), S. 141 (143); Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, S. 65; Perron (Fn. 4), S. 135 (144); Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 269 Fn. 357; Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften, in F.A.Z. v. 17.2.1995, S. 15; Reisner, Die Strafbarkeit von Schein- und Umgehungshandlungen in der Europäischen Gemeinschaft, 1995, S. 7; Rump, in Leitner (Fn. 15), S. 75 (77); Sieber, RPS 1996, 357 (358); Spinellis, KritV 1999, 141; Tiedemann, in Gamm/Raisch/Tiedemann (Hrsg.), Festschrift für Gerd Pfeiffer, Strafrecht, Unternehmensrecht, Anwaltsrecht, 1988, S. 101 (104); Vervaele, Fraud against the Community, 1992, S. VII; ders., RSCDPC 1990, 29 (30); Waldhoff, in Calliess/ Ruffert, Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1999, Art. 280 Rn. 1; Wolffgang, in Ehlers, Dirk u.a. (Hrsg.), Rechtsfragen der Europäischen Marktordnungen, Köln 1998, S. 209 (212). Wägenbaur, EuZW 1996, 450 (451) schätzt das Verhältnis von festgestelltem zum wahren Schädigungsumfang auf eins zu zehn. [xvi] Fromm (Fn. 7), S. 21 ff. [xvii] EuGH ZIS 2006, 182 Rn 27. [xviii] Griese, EuR 1998, S. 462 (476); Schröder Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 146. Trotz der neuen EuGH-Entscheidung vom 13.09.05 bleibt auch Dannecker, ZIS 2006, 309 (313) bei dieser Auffassung. [xix] EuGH Slg. 1981, 2595 = NJW 1982, 504 Rn. 27 – „Casati“, und Slg. 1998, I-3711 = EuZW 1998, 569 Rn. 19 m. Anm. Abele = NStZ 1999, 141 m. Anm. Gless – „Lemmens“ [xx] Hierzu Fromm (Fn. 7), S. 68 ff. [xxi] Dannecker, Jura 1998, 79 (80); ders. (Fn. 14), Kap. 8 Rn. 41; Heitzer (Fn. 8), S. 144; Kathrein, ÖJZ 1994, 785 (793); Kuhl, in: Henke (Hrsg.), Hemmnisse und Sanktionen in der Europäischen Union, 1996, S. 149 (157); Zott, Der rechtliche Rahmen der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit in der Europäischen Union, 1999, S. 72. [xxii] Brübach, Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf dem Gebiet Inneres und Justiz, 1997, S. 128; Hailbronner, Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union (EUV/ EGV), 7. Lieferung, Nov. 1998, Köln u.a. 1998, Art. K, Rn 15. [xxiii] Cremer, in Calliess/Ruffert (Fn. 15), Art. 47 EU Rn. 1; Pache, in Grabitz/Hilf (Fn. 15), Art. M EUV Rn. 23. [xxiv] Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Amsterdam, in BT-Drs. 13/9339, S. 159; BR-Drs. 784/97, S. 159. Auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion (Drs. 14/ 1774) bestätigte die neue Regierung diese Auslegung des EG/EU-Vertrages (Drs. 14/4991). Allerdings wird nunmehr eine Angleichung von Rechtsvorschriften für möglich erachtet. Näher zur Großen Anfrage und den Antworten der Regierung Krekeler, StraFo 2002, 50 f. [xxv] Gosalbo Bono, RTDE 1997, 769 (797); Kienle, in Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, Köln 1998, Kap. 8 Rn. 20; Soulier, RSCDPC 1998, 237 (251). [xxvi] Albrecht/Braum, ELR 1999, 293 (298); Chavaki, ZEuS 1999, 431 (465); Eisele, Jura 2000, 424 (429); ders., Jura 2000, 896 (898); Fijnaut, TvS 1998, 988 (1024); Gärditz, wistra 1999, 293; Geiger, EG/EU-Vertrag, Kommentar, 3. Aufl. 2000, Art. 280 Rn. 2, 3; Gleß, DRiZ 2000, 365 („ ... dass überall dem Gesetz ein Genüge geschehe“); Griese, EuR 1998, 462 (476); Haguenau-Moizard, RMC 1998, 240 (251); Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162 (167); dies., in: Huber (Fn. 15), S. 91 (99); Kühl, Der Beitrag der Strafrechtswissenschaft zur Europäisierung des Strafrechts, in G. Köbler u.a. (Hrsg.), Festschrift für Alfred Söllner, Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends, 2000; S. 613 (616); Labayle, RTDE 1997, 813 (858); Müller-Gugenberger, in ders./Bieneck (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsstraf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, 3. Auflage, 2000, § 5 Rn. 63; Musil, NStZ 2000, 68; Nuutila (Fn. 15), S. 177 (182); Pieth, in ders. u.a. (Hrsg.), Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, 1999, S. 343; Satzger, StV 1999, 132; ders., ZRP 2001, 549 (552); ders. (Fn. 3),STREICHEN; Siano, Betrugsbekämpfung zum Schutz der finanziellen Interessen der EU unter besonderer Berücksichtigung der UCLAF, 1999, S. 51; Soulier, RSCDPC 1998, 237 (251); Störbeck, DRiZ 2000, 481 (487); Waldhoff (Fn. 15) Art. 280 Rn. 3; Wattenberg, StV 2000, 95 (193); Zeder, in Leitner (Fn. 15), S. 57 (63); de Zwaan, in Vervaele (Hrsg.), Transnational Enforcement of the Financial Interests of the European Union, 1999, S. 13 (25). [xxvii] EuGH ZIS 2006, 185 Rn. 52. [xxviii] Bourlanges (PPE), zum Thema: Strafverfolgung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union, in Verhandlungen des Europäischen Parlaments im März/April 1998, Nr. 4-517, S. 59 (63); Entwurf einer Stellungnahme des Ausschusses für Haushaltskontrolle für den Ausschuss für konstitutionelle Fragen vom 13.1.2000, D.; Schröder (Fn. 18), S. 146. [xxix] Dannecker, in Leitner (Fn. 15), S. 9 (40); Tiedemann, AGON 1997, Nr. 17, S. 12; ders., GA 1998, 107 (108); Ulrich, Kontrollen der EG-Kommission bei Wirtschaftsbeteiligten zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft, 1999, S. 181. [xxx] Berg/Karpenstein, EWS 1998, 77 (81); Feit, Das System zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft im Aus­fuhrerstattungsrecht, Münster, Diss. 2001; S. 113; Tiedemann, AGON 1999, Nr. 23, S. 7; Ulrich, EWS 2000, S. 137 (147); ders., ZfZ 1998, 176 (179); Wolffgang/ Ulrich, EuR 1998, 616 (644); Wolffgang, in Ehlers u.a. (Hrsg.), vgl. Fn. 15, S. 209 (241). [xxxi] Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Kap. 2. B. IV. 3) b) (3); ders., ZRP 2001, S. 549 (553). [xxxii] Satzger (Fn. 3), S. XXX Kap. 2. B. IV. 3) b) (3). [xxxiii] Satzger (Fn. 3), S. XXX Kap. 2. B. IV. 3) b) (3). [xxxiv] Gosalbo Bono, RTDE 1997, 769 (797); Kienle (Fn. 25), Kap. 8 Rn. 20; Waldhoff (Fn. 15), Art. 280 Rn. 19; White, Protection Of The Financial Interests Of The E.C., The Fight Against Fraud And Corruption, 1998, S. 190, 191, 196; dies., AGON 1997, Nr. 16, S. 3 (5). [xxxv] Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Amsterdam, in BT-Drs. 13/9339, S. 159; BR-Drs. 784/97, S. 159; Hetzer, Kriminalistik 2000, 782 (787). A.A. Hecker, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag Kommentar, 1999, Art. 280 Rn. 2; Petite, R.M.U.E. 1997, 17 (35); Satzger (Fn. 3), S. XXX Kap. 5. C. II. 2) b) (3). Ähnlich der Europäische Rechnungshof, „Sonderbericht 8/98 über die mit der Betrugsbekämpfung befassten Dienststellen der Kommission, insbesondere die Einheit für die Koordinierung der Betrugsbekämpfung UCLAF, zusammen mit den Antworten der Kommission“, in ABl. 1998, C 230, S. 1 (5, Ziff. 2.10.), der nach Einführung des Art. 280 EG die Möglichkeit für „eine Gemeinschaftsaktion zur Abstimmung der einzelstaatlichen Strafrechtsordnungen“ sieht. [xxxvi] So Satzger, ZRP 2001, 549 (553 f.). [xxxvii] VO Nr. 28, in ABl. 1962, S. 1277. [xxxviii] VO Nr. 188/64 (EWG), in ABl. 1964, S. 3634. [xxxix] Diese bestimmten wörtlich übereinstimmend: „Für die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen Absatz 1, insbesondere die Verletzung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, gelten die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für innerstaatliche Erhebungen“. [xl] § 13 des deutschen Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke a.F. (vgl. BGBl. 1953, S. 1314) lautete: „Wer ein Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis, das ihm bei seiner Tätigkeit aufgrund dieses Gesetzes anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, unbefugt offenbart oder verwertet, oder wer eine nach den Vorschriften dieses Gesetzes geh

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